Normalerweise schlürfe ich Bücher, verschlinge sie, lese sie
Vollspeed. Und wenn die Inhalte gut sind, eine gute, eine interessante, eine
spannende Geschichte erzählen, lese ich sie zweimal. Und wenn sie mir
Geschichten über mich erzählen, Hauptfiguren haben, mit denen ich mich
identifizieren kann, dann lese ich sie auch dreimal, viermal, zehnmal. Selten
lese ich Bücher langsam, lege nach ein paar Seiten das Buch beiseite und lasse
die Worte, die Inhalte, die Geschichten, die Informationen auf mich wirken.
Jetzt gerade habe ich so ein Buch am Wickel: Yuval Noah Harari, Sapiens. A
Brief History of Mankind. Eigentlich eher aus Langeweile gekauft, nach dem
Motto, mal wieder was Anspruchsvolles zum Angeben lesen. Aber Pustekuchen. Ja,
ok., es ist anspruchsvoll, und ja, vermutlich könnte ich in den richtigen
Kreisen auch damit angeben. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Das Buch ist
bis jetzt ober- ober- ober spannend (ich bin gerade auf Seite 69 J von 489). Weil es so viele Themen berührt, die mich
beschäftigen.
„Common myths, that exist only in peoples collective
imaginations“ (S. 30): Eine der Thesen des Buches, warum es außer uns, Homo Sapiens,
keine anderen Menschengruppen (Homo neanderthalensis u.v.a.m.) mehr auf der Erde gibt, ist unsere Fähigkeit zum
abstrakten Denken, unsere Fähigkeiten zum Geschichten nicht nur zu erzählen,
sondern sie zu schöpfen, zu erfinden. „The ability to invent fiction“ (S. 43); „the ability to compose fiction“
(S. 35). Unsere Fähigkeit, abstrakte Gebilde wie Firmen, Staaten,
Religionen zu erdenken und zum Leben zu erwecken. Und damit Gemeinwesen weit
über die 150 Personen hinaus zu bilden, die ohne diese Gabe nur möglich sind. Diese Fähigkeit, durch Geschichten welcher Form auch immer
(Mythen, Bücher, Serien) soziale Gemeinschaft, Gemeinsamkeiten sonst fremder
Menschen zu kreieren, ist die eigentliche Überlegenheit Homo sapiens´. Denn die
Gedanken sind frei, und somit sind alle möglichen Gesellschaftsformen denkbar.
Meine
Übersetzung eines „horizon of possibilities“ (S. 51), Yuval nennt es auch „a
bewildering palette of possibilities" (ebd.), wäre die eines Meeres an
Möglichkeiten, die diese Gabe uns schenkt. Er zeigt daran auf, wie
unterschiedlich die kulturelle Ausprägung möglich ist, in alle, alle, alle Richtungen,
von friedlich bis kriegerisch, von frauendominiert bis männerdominiert, von egalitär
bis diktatorisch. Alles drin, kulturell gesehen, beim Homo Sapiens, bei uns.
Sowohl sozial als auch religiös.
Und da fangen meine Gedanken so richtig an zu rotieren. Wenn
alles möglich ist, was will ich dann als meine Möglichkeit?
Es ist so wichtig, welche Geschichten wir erzählen. Im
Lassahner Winkel leben Menschen, die das „anders denken – anders leben“ zum
Prinzip erhoben haben. In ihrer Zeitschrift „Oya“ drücken sie einige dieser
Gedanken aus, getrieben von der Sorge um die Erde und den Fortbestand ihrer
Artenvielfalt. Die gleiche Sorge treibt Harari um, würde ich mal sagen, wenn
ich die kurzen Anklänge, die er zu dem Thema bisher gemacht hat, richtig interpretiere.
In den beiden Ausgaben der Oya, Nr. 40 und Nr. 42, die ich gelesen habe, kommt
dieser horizon of possibilities so richtig zur Geltung. Und regt mich an, mein
eigenes Meer an Möglichkeiten zu sehen. Wie will ich leben?