Mit Andrea nach Rostock gefahren zur Lesung von Alexandra
Senfft, Der lange Schatten der Täter. Sie berichtet von ihrer Aufarbeitung der
Geschichte ihrer Familie, mit einem Großvater, der für seine Schuld am Galgen
hingerichtet wurde. Von einer Großmutter, seiner Frau, die sie, die Enkelin, innig geliebt
hat, eine Oma, die eine ebenso überzeugte Nationalsozialistin wie ihr Mann war. Sie
erzählt von Menschen, in deren Familie der Mythos, die Trauer über die
verlorene Fabrik aufrecht gehalten wird, jedoch die Herkunft dieser Fabrik aus
Arisierung geleugnet wird.
Opfer des Nationalsozialismus. Dazu gehören für mich nicht
nur die ermordeten (und überlebenden) Juden, Homosexuellen und politisch
Verfolgten. Das reicht für mich bis zu den Kindern und Enkeln der Opfer und
Täter, zu Kriegskindern und Kriegsenkeln. Und, und, und. Transgenerationale
Vererbung.
Dabei: was heißt Opfer des Nationalsozialismus? Das klingt
so schön abstrakt. Opfer der in der Gesinnung des Nationalsozialismus
handelnden Menschen; Opfer der Männer und Frauen, die Täter, Mitläufer,
Nutznießer der Struktur, der Gesinnung Nationalsozialismus waren. Opfer der im
Sinne des Nationalsozialismus handelnden Menschen wäre eine sehr präzisere
Bezeichnung. Systeme handeln nicht aus sich. Auch der Kapitalismus sind du und
ich, die in diesem System konsumieren, unser Geld verdienen. Und Demokratie
sind auch wir, jede und jeder einzelnen. Doch da will ich gar nicht hin. Es
geht mir um die Opfer, hier die Opfer der Menschen, die im Sinne des Systems
Nationalsozialismus handelten.
Es ist so leicht, sich als Opfer zu fühlen, dann
sind immer die anderen schuld. Dass ich mich mit dieser Haltung zur Täterin
mache, vergessen die meisten. Ich handle, um Opfer zu bleiben, indem ich den
anderen die Schuld zu schiebe. Handeln hat mit tun, mit machen zu tun, ist ein
aktiver Prozess. Der mich damit zur Täterin werden lässt. Wenn ich Opfer
bleiben will, die diffus gefühlten Unstimmigkeiten in meiner Familiengeschichte
(oder nur in meiner Beziehung, seufz) nicht anspreche, nicht versuche, an zu
sprechen, aufzuklären, dann werde auch ich durch mein Nicht-Handeln zur
Täterin, denn ich gestalte mir das ja. Kriegskinder und Kriegsenkel haben so
immer Gestaltungsmöglichkeit. Vermutlich alle anderen auch. Das hat nicht mit
der Frage Schuld zu tun. Da ist klar: wer tötet, wer mordet, wer Gewalt deckt,
wer von Gewalt profitiert, macht sich schuldig. Womit ich schon wieder beim
Kapitalismus wäre. Denn wir in der Ersten Welt profitieren von der Ausbeutung
der Dritten Welt. Es ist nur nicht so sichtbar wie bei Arisierung.
Vermutlich
mache ich mich an mir selbst schuldig, wenn ich Opfer bleiben will. Ein weites
Feld.
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