Mittwoch, 30. August 2017

Horizon of possibilities



Normalerweise schlürfe ich Bücher, verschlinge sie, lese sie Vollspeed. Und wenn die Inhalte gut sind, eine gute, eine interessante, eine spannende Geschichte erzählen, lese ich sie zweimal. Und wenn sie mir Geschichten über mich erzählen, Hauptfiguren haben, mit denen ich mich identifizieren kann, dann lese ich sie auch dreimal, viermal, zehnmal. Selten lese ich Bücher langsam, lege nach ein paar Seiten das Buch beiseite und lasse die Worte, die Inhalte, die Geschichten, die Informationen auf mich wirken. Jetzt gerade habe ich so ein Buch am Wickel: Yuval Noah Harari, Sapiens. A Brief History of Mankind. Eigentlich eher aus Langeweile gekauft, nach dem Motto, mal wieder was Anspruchsvolles zum Angeben lesen. Aber Pustekuchen. Ja, ok., es ist anspruchsvoll, und ja, vermutlich könnte ich in den richtigen Kreisen auch damit angeben. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Das Buch ist bis jetzt ober- ober- ober spannend (ich bin gerade auf Seite 69 J von 489). Weil es so viele Themen berührt, die mich beschäftigen.

„Common myths, that exist only in peoples collective imaginations“ (S. 30): Eine der Thesen des Buches, warum es außer uns, Homo Sapiens, keine anderen Menschengruppen (Homo neanderthalensis u.v.a.m.) mehr auf der Erde gibt, ist unsere Fähigkeit zum abstrakten Denken, unsere Fähigkeiten zum Geschichten nicht nur zu erzählen, sondern sie zu schöpfen, zu erfinden. „The ability to invent fiction“ (S. 43); „the ability to compose fiction“ (S. 35). Unsere Fähigkeit, abstrakte Gebilde wie Firmen, Staaten, Religionen zu erdenken und zum Leben zu erwecken. Und damit Gemeinwesen weit über die 150 Personen hinaus zu bilden, die ohne diese Gabe nur möglich sind. Diese Fähigkeit, durch Geschichten welcher Form auch immer (Mythen, Bücher, Serien) soziale Gemeinschaft, Gemeinsamkeiten sonst fremder Menschen zu kreieren, ist die eigentliche Überlegenheit Homo sapiens´. Denn die Gedanken sind frei, und somit sind alle möglichen Gesellschaftsformen denkbar. 

Meine Übersetzung eines „horizon of possibilities“ (S. 51), Yuval nennt es auch „a bewildering palette of possibilities" (ebd.), wäre die eines Meeres an Möglichkeiten, die diese Gabe uns schenkt. Er zeigt daran auf, wie unterschiedlich die kulturelle Ausprägung möglich ist, in alle, alle, alle Richtungen, von friedlich bis kriegerisch, von frauendominiert bis männerdominiert, von egalitär bis diktatorisch. Alles drin, kulturell gesehen, beim Homo Sapiens, bei uns. Sowohl sozial als auch religiös.
Und da fangen meine Gedanken so richtig an zu rotieren. Wenn alles möglich ist, was will ich dann als meine Möglichkeit? 

Es ist so wichtig, welche Geschichten wir erzählen. Im Lassahner Winkel leben Menschen, die das „anders denken – anders leben“ zum Prinzip erhoben haben. In ihrer Zeitschrift „Oya“ drücken sie einige dieser Gedanken aus, getrieben von der Sorge um die Erde und den Fortbestand ihrer Artenvielfalt. Die gleiche Sorge treibt Harari um, würde ich mal sagen, wenn ich die kurzen Anklänge, die er zu dem Thema bisher gemacht hat, richtig interpretiere. In den beiden Ausgaben der Oya, Nr. 40 und Nr. 42, die ich gelesen habe, kommt dieser horizon of possibilities so richtig zur Geltung. Und regt mich an, mein eigenes Meer an Möglichkeiten zu sehen. Wie will ich leben?

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