Freitag, 28. Februar 2020

Kuriositäten auf diesem Törn

Flugzeugträger Alex


Auf der Alex herrscht wegen Brandgefahr striktes Rauchverbot. Der einzige Ort, wo sich die Raucher*innen tummeln dürfen, ist das Achterdeck. Während auf anderen Törns das Achterdeck eher Sonnendeck als Raucherdeck ist, tummeln sich dort auf diesem Törn die Stammcrew der Gorch Fock und einige der Offiziersanwärter und quarzen eine nach der anderen. Bei soviel Kette rauchen bleibt natürlich die eine oder andere leere Packung über. Und induziert Kreativität. Eine Zigarettenschachtel ergibt einen Jagdfighter. Und so wird die Alex schwuppsdiwupps ein Flugzeugträger.


Uniformität und Individualität

Marine ist Militär, heißt Uniform, heißt Disziplin und Uniformität. Das reicht bis hin zum Reisegepäck, bei der Marine natürlich stilecht ein Seesack. Und dann mein schöner rosa Rucksack dazwischen. Individualität pur.





Geburtstagskuchen

Wer auf einem Törn Geburtstag hat, bekommt eine Urkunde. Und einen Kuchen. Meine Verwalterkollegin ist diesen Törn 65 geworden und mag kein Süß. Also hat die Kombüse auf die Schnelle einen sazigen Kuchen produziert, eine Brotquiche. Stilecht mit grünen Segeln.



Die rote Eva

Auf den Kanaren liefert der Schiffshändler Eva-Marmelade. Und so zucke ich jeden Morgen zig mal zusammen, weil mein Name genannt wird. Zumal alle die rote Marmelade wollen. "Reich mal die rote Eva rüber" ist der Standardspruch.




Captains Dinner

Das Captains Dinner ist am letzten Abend immer das Highlight. Die Küche übertrifft sich selbst, es gibt Wein bis zum Abwinken und meistens eskaliert die After-Party an Deck mit Tanzen bis nachts um drei.

Scampi im Seesack 

Kartoffelpüreerosette mit gefüllter Tomate 

Die Alex auf den sieben Weltmeeren

Mousse Alemania. Fürst Pückler lässt grüßen. 



Donnerstag, 27. Februar 2020

Segelschulschiff

Die Alexander von Humboldt 2 ist eine Dreimastbark, 65 m lang, 10 m breit, 4,8 m Tiefgang. Grüne Segel, gelbe Masten, jedesmal, wenn ich auf einen neuen Törn gehe, verrenke ich mir im Taxi zum Hafen den Hals, weil der 40 m hohe Großmast und der 36 m hohe Fockmast über die Hafengebäude hinausragen und weithin zu sehen sind. Gereedert durch die DSST, Deutsche Stiftung Sail Training, ist die Aufgabe der Alex vor allem jungen Leuten segeln und Seemannschaft auf einem Großsegler beizubringen. Insofern war es logisch, dass die Deutsche Marine im Sommer letzten Jahres auf uns zu kam, ob wir nicht als Ersatz für die Gorch Fock Offiziersanwärter der Marine ausbilden können. Na klar können wir das. Und so bin ich diesen Törn von Las Palmas nach La Coruna mit 39 Offiziersanwärtern, 17 Gorch Fock Stammcrew und 20 Alex Stammcrew gefahren. 76 Personen an Bord. Damit ist das Schiff voll bis an den Kragenrand. Maximal 78 Kojen gibt es an Bord.

Im Internet-Logbuch der Alex hatte ich die letzten Wochen die Berichte von den Vortörns gelesen. Sail-Training heißt Segeln. Segeln heißt Halsen und Wenden üben, Rahen brassen, Segel setzen, Segel bergen. In den Rahen Segel packen, und und und. In den Berichten war jedesmal von 20 und mehr Halsen die Rede. Was ich nicht bedacht hatte: mein Törn war der erste von zwei Rückreisestörns Richtung Heimathafen Bremerhaven. Luftlinie von Las Palmas bis La Coruna sind 970 sm. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 5 Knoten durchaus zu schaffen inkl. der zusätzlichen Seemeilen durch Segelmanöver. ABER: um diese Jahreszeit kommt der Wind in dieser Region meistens aus Norden, oder aus Nordost, bedingt durch den Nordostpassat und das Azorenhoch. Das ist in dem Fall wie beim Fahrrad fahren. Der Wind kommt immer von vorne. Und wenn irgendwas nur ganz mühsam geht, dann mit einem Rahsegler gegen den Wind anzufahren. Also haben wir den Motor angeschmissen. Von 1328 Seemeilen sind wir nur 313 Seemeilen gesegelt. Immerhin mehr als erwartet. 10 Tage hatten wir kein Land in Sicht, das ist Internetdetox pur.

Jedoch ist das Zusammenspiel von Atlantikdünung, Motorfahrt und Nordwind extrem seekrankheitsfördernd. So schlecht ging es mir noch auf keinem Törn. Zum Glück ist Seekrankheit mindestens zur Hälfte Psyche, lässt sich also relativ ignorieren, sobald der erste heftige Schub vorbei ist. Und so habe ich wieder gefühlte 150 Fotos von Wellen, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Wellen, Sonnenuntergang, Wellen, Sonnenaufgang gemacht. Der Atlantik hatte wie die letzten Jahre sein wunderbares Blau und Wellenhöhen zwischen anderthalb und sechs Metern.  Die Delphine haben sich mir dieses Mal nur kurz gezeigt. Die Biskaya dagegen hat ihrem schlechten Ruf alle Ehre gemacht, alles grau, stürmisch, regnerisch, kabbelige Wellen.

Weil wir per Maschine soviel Zeit herausgefahren hatten, konnten wir zum Abschluss zweieinhalb Tage am Stück segeln. Himmlisch. Sanftes Wiegen in den Wellen des Meeres, relativ geräuschlos, aka kein Motorlärm, dafür das Knattern der Segel. Balsam für die Seele.
Der Törn ist gerade vorbei, da freue ich mich schon auf Februar 2021, meinen nächsten Törn auf der Alex.














Sonntag, 16. Februar 2020

The dragon and the maiden

Als ich meinen Törn auf der Alexander von Humboldt 2 geplant habe, war ich ein bisschen geknickt, weil klar war, zum Karneval bin ich nicht in Las Palmas. Durch die Planänderung, dass die Alex als Ersatz für die Gorch Fock zur Ausbildung der Offiziersanwärter genutzt wird, sah es dann anders aus. Nur habe ich das erst zwei Tage vor Abflug realisiert. Viel zu spät um mir noch ein elaboriertes Kostüm zu überlegen. Thema in Las Palmas dieses Jahr "Once upon a Time". Theoretisch gilt das ja nur für die offiziellen Veranstaltungen, praktisch setzen das die meisten Teilnehmer*innen auch für den Strassenkarneval um.
In Spanien oder vielleicht auch nur in Las Palmas verkleiden sich jede Menge Männer als Frauen. So sehe ich nicht nur Einhörner im rosa Tutu mit Bart, sondern auch männliche Disney-Schneewittchen, Rotkäppchen mit Sixpack und Bräute im weißen Hochzeitskleid mit Bart. Kichere über schwangere Bräute, wozu ein Bierbauch gute Dienste leistet. Es ist ein Fest für die Augen. Viele Leute sind in Gruppen unterwegs. So sehe ich Ägypter*innen, Männer der Rus mit einer Orientalin, Kostüme aus der Zeit um 1500. Ich sehe maleficient, die gesamte Teegesellschaft aus Alice aus dem  Wunderland, Feen, Elfen, Hexen, Zauberer. Strassenkarneval in Las Palmas ist genauso gut wie Strassenkarneval in Köln, nur wärmer.
Ich gehe als Drache und Jungfrau gleichzeitig. Kleid und Mütze Spontankauf vor Ort.




Schnipsel von Gran Canaria

Auto-Maleste 1
Nein, kein Unfall, sondern nur ein Park-Ticket. Halten zum Ein- und Ausladen ist hier nur Transportern erlaubt. Der kleine Fiat Panda zählt definitiv nicht dazu, obwohl wir nur unser Gepäck in die Ferienwohnung ausgeladen haben. 200 € kostet das hier. Zweihundert Euro !!! Beim Zahlen binnen 24 h nur 100 Euro. Die wir schleunigst bezahlt haben. Kein Wunder, dass die Stadt überhaupt nicht illegal zugeparkt ist. Ohne die freundlichen Menschen von der Autovermietung hätte ich den Parkzettel gar nicht begriffen. Er kannte das natürlich schon, und meinte, er schickt das den Leuten nach Deutschland hinterher, dann aber mit 250 € wegen Mühe und Aufwand. Glück gehabt.


Auto-Maleste 2
Mein Highspeed Internet Volumen ist aufgebraucht. Das hatte ich noch nie. Theoretisch weiß ich zwar, dass ich da im Gegensatz zu telefonieren und SMS keine Flatrate habe. Praktisch hat sich eine App von mir selbst eingeloggt und versucht zum Mietwagen Kontakt aufzunehmen um mein - natürlich super gutes Fahrverhalten - aufzuzeichnen. Und das zwei Tage lang. Da ist das Highspeed Volumen natürlich alle. Und ich weiß auch nicht, ob ich für meine Kurvenkurbelei Bonuspunkte bei meiner Autoversicherung gekriegt hätte.
Und so bin ich jetzt bei langsamen Internet angekommen. Das Bilder hier im Blog hochladen nicht wirklich zulässt. Ein Bild dauert 4 min!


Tapas, Tapas, Tapas und manchmal ein Cortado

Ich bin gar kein so großer Fan der spanischen Küche. Kein Salat, kaum frisches Gemüse. Aber dafür gibt es hier Tapas. Tapas gehen immer. Und Cortado ist sowieso der leckerste Milchkaffee ever. Womit meine Grundnahrungsmittel dieser Tage klar umrissen sind.



Baden im Atlantik

Jedes Mal nehme ich den Badeanzug mit.
Jedes Mal schleiche ich drum herum ums Wasser, ums Meer. Jedes Mal nehme ich den Badeanzug mit.
Fast jedes Mal ist der Atlantik zu stürmisch, ist die Badeflagge auf rot, brechen die Wellen mit zu großer Wucht an den Strand. Fast jedes andere Mal ist das Wasser oder der Wind zu kalt. Heute stimmt alles. Der Atlantik ist wärmer als die Ostsee und deutlich salziger.


Kunst in Galdar
Galdar hat nicht nur Archäologie zu bieten. Auch moderne Kunst hat ihren Platz. Die Malereien im Mercado stehen in jedem Reiseführer. Aber auch die Guanchin vor dem Museum, die Skulptur aus Fisch und Frau in der Tourismus-Information oder die Statuen vor dem Mercado sind sehenswert.
Und nicht vergessen: jedes Bild dauert vier Minuten, bis es hochgeladen ist.







Freitag, 14. Februar 2020

Harimaguada


Als ich 2018 auf Gran Canaria war, bin ich am europäischen Museumsmontag gescheitert und habe mir eben keine archäologischen Funde angesehen. Dieses Jahr bin ich erst Dienstags auf die Insel geflogen, und habe Mittwoch und Donnerstag damit verbracht, mir archäologische Fundstätten anzugucken. Begonnen habe ich in Galdar, der Inselhauptstadt zur Zeit der Guanchen, der Altkanarier.
Im Museum, das gleichzeitig ein großes konserviertes Grabungsgelände überdacht, gab es erstmal Grundlagen zu erfassen. Und jede Menge interessante Frauengeschichte(n). Die Museumsdidaktik ist rund um eine adlige Guanchin aufgebaut, die nach der Eroberung durch die Spanier die Frau des Vizekommandanten wurde. Eine reale Person, die vorher und nachher erlebt hat.
Mich hat vor allem die Cueva Pintada interessiert. Eine bemalte Höhle, Teil eines Höhlenkomplexes, inmitten der Siedlung. Im Museum bzw. inmitten der überdachten Ausgrabungsfläche, Rekonstruktionen der Häuser, mit nachgebauten Funden (die im Museum selbst in ihren realen Resten in den Vitrinen liegen) und Bildschirmen, auf denen kurze Filme die Kultur der Guanchen in verschiedensten Facetten erklären. Klasse gemacht. Erst da erfahre ich von den Harimaguadas, den Priesterinnen der Guanchen. Es gibt auch Heilerinnen und Hexen, den spanischen Quellen zufolge. Die Harimaguadas leben in den Kornspeichern, und überwachen die Verteilung. Das nenne ich mal eine Machtposition. Wie überhaupt Frauen erben und vererben dürfen, auch wenn sie in letzter Konsequenz Männern unterstehen. Spannend!
Was ich im Museum interpretiert sehe, was im Führer beschrieben ist, lässt eine duale Gesellschaft erkennen, in der das Böse durch Hunde, die in Vulkanen wohnen, symbolisiert wird.

Ausgrabungsfläche in Galdar
Die moderne Stadt ist durch die Textilbahnen, die die Ausgrabungsfläche beschatten, hindurch zu sehen.
In der Cueva Pintada darf man nicht fotografieren. Das grafische Muster fasziniert mich. Was mag es bedeuten?
Frauenfiguren und Vulven.
Vulven und Frauenfiguren 
Frauenfiguren mit Vulven

Die Kornspeicher bei Cenobio de Valeron.
Der vulkanische Ursprung der Kanaren ist auf Gran Canaria an allen Ecken und Enden zu sehen. Ich fahre zur Caldera Bandama und laufe ein wenig herum. Überrest eines explodierten Vulkans. Mit Basaltsäulen, Tuffschichtungen und einem wunderbaren Blick aufs Wasser bzw. über Teile der Insel. Auch hier gibt es Höhlen, allerdings Wohnhöhlen, eine Siedlung. Die Höhlen und Getreidesilos beim Cruz de Tejada finde ich leider nicht im Gelände, dafür habe ich immer wieder gute Ausblicke auf das Bergheiligtum Roque Bentaiga.





Es gibt noch mehr solche Felsenheiligtümer, dazu Aussichtspunkte auf Bergspitzen, die Versammlungsplätze waren. Wofür ich den Mietwagen, einen Fiat Panda, aber immer wieder in winzige Einfahrten und Haltebuchten zwängen muss. Die Serpentinen, Haarnadelkurven und Steigungen fordern mein ganzes fahrerisches Können. Den Blick beim Fahren schweifen zu lassen ist nicht drin.

Zum Abschluss meiner freien Tage auf Gran Canaria spaziere ich morgens nochmal am Strand entlang, bevor es auf die Alex zum Segeln geht.


Dienstag, 11. Februar 2020

Sturmwarnung

Seid ich in Norddeutschland lebe, und erst Recht seit ich in Nordostdeutschland  lebe, lächel ich milde, wenn die Sturmwarnung in Radio und Fernsehen kommt. Nicht, weil ich den Sturm unterschätze, sondern weil ich schon so viele abgewettert habe. Wenn du jedes Jahr zwei, drei Herbststürme erlebst, dazu ein oder zwei im Frühjahr und vielleicht noch einen Gewittersturm im Sommer und naja - nicht Schneesturm, aber übel verwehte Schneestraßen, dann zuckst du nur die Schultern bei der Wetterwarnung des DWD. Durch die vielen Stürme fällt immer mal ein Baum um, so dass nicht soviel Unfallpotential herrscht. Die wackeligen Bäume sind schon längst umgekippt. Oder durch die Baumpflege entfernt. 
Einzige Aktion meinerseits: ich schau bei Windfinder nochmal die genaue Situation vor Ort nach, hole im Zweifel das Fahrrad rein. Stadtleben. In einem Haus mit Garten ist mehr zu tun.
Doch heute will ich mit dem Flugzeug nach Gran Canaria. Die Alex ruft. 5-6 Bft, in Böen 7-8 Bft. Das Schiff segelt da noch entspannt. Der Flieger hoffentlich auch.

Hotel Ibis Hamburg-Flughafen 


Sonntag, 9. Februar 2020

Ein Volk von Ritzern

Es gibt richtig Anleitungen, wie man einen guten Blog schreibt. Wie lang er am Besten sein soll, wie man ihn gut verlinkt mit anderen Blogs, wie man Themen taggt und und und. Ich ignorier das in der Regel. Weil - es ist mein Blog, Ich muss damit kein Geld verdienen. Trotzdem gucke ich ab und an in die Statistik. Ich kann zwar nicht sehen, wer meinen Blog liest, aber ich kann sehen, wieviele Leute meinen Blog lesen. Und da kommt mir eine der Anleitungen wieder in den Sinn. Wähle einen griffigen Titel. Ich lese das, und in meinem Gehirn kommt an, einen reißerischen Titel. Denn die Statistik sagt, dass mit Titeln, die Aufmerksamkeit erregen, wie zum Beispiel Nuttenhunde, dass diese Posts signifikant häufiger gelesen werden. Und so auch dieser Ttel. Dabei bezieht er sich nur auf den Post "Deutschland im Jahr 2019".
Eine dieser alltäglichen Wiedersprüche: wir wollen ordentliche Informationen und clicken dann doch auf die eher reißerischen Überschriften. Wir sind alle nur Menschen.

Deutschland im Jahr 2019

In der Kunsthalle Rostock läuft gerade die Ausstellung "Ute Mahler und Werner Mahler. Werkschau". Ich liebe Fotografie, fotografische Ausstellungen, und vor allem Ute Mahler ist mir ein Begriff durch ihre Modefotografien für die Sibylle. Erst in der Ausstellung merke ich, wieviel mehr Bilder und Fotostrecken ich von den beiden kenne.
Nach der Wende haben die beiden mit anderen Fotograf*innen die Fotoagentur Ostkreuz gegründet. Heute sind 22 Fotograf*innen Teil der Agentur. Und diese 22 haben jede*r eine Fotostrecke zu Deutschland 2019 gemacht, die dann durch Paul Ouazan für arte in einen Fotofilm verwandelt wurden. Fotofilm war ein ganz neues Wort für mich. Ein Film, der aus stehenden Bildern, ergo Fotografien, einen Film macht. Durch reinzoomen, rauszoomen, überblenden und was es dergleichen noch für Techniken gibt. Jede*r Fotograf*in hat einen Text dazu verfasst. Von 22 Filmen werden 10 aufgeführt, 8 Fotograf*innen sind anwesend. Und so bekommen wir ein Kaleidoskop von Deutschland 2019 zu sehen. Buxtehude, Baden-Baden, Anklam, Fernfahrerkabine, Kienbaum, die Elbe, und und und. Zwei Filme hauen mich um. Der eine von Jordis Antonia Schlösser zeigt den Braunkohleabbau Garzweiler. Zeigt das halb verlassene Immerath, zeigt Neu-Immerath, spricht mit den noch verbliebenen Einwohnern im alten Dorf und den Bewohnern des neuen Dorfes, zeigt die Flüchtlingsmädchen, die im alten halbverlassenen Dorf untergebracht wurden. Streift das Thema von Verlust der Heimat. Meine Urgroßeltern hatten einen großen Bauernhof in Garzweiler. Meine Eltern hatten überlegt in Immerath zu bauen. Da betrifft mich Deutschand 2019 auf einmal persönlich.

Der Film von Jörg Brüggemann berührt mich auf ganz andere Weise. Es geht um den Harz und den Deutschen Wald. Wie sehr er durch die Nazis vereinnahmt wurde. Er zeigt, wie nahe die Idylle und das Krematorium des Arbeitslagers Mittelbau-Dora beieinander liegen. Er findet deutliche Worte, dass wir nachfolgenden Generationen zwar keine Schuld mehr am Grauen der Nazizeit haben, aber sehr wohl die Verantwortung, dass es nicht wieder passiert. Als er die noch sichtbaren Zeichen der deutsch-deutschen Grenze zeigt, prägt er den Spruch der autoagressiven Deutschen, und fragt sich, ob wir ein Volk von Ritzern sind. Das scheint so daher gesagt, und ist für mich doch stimmig. Sowohl die überzeugten Nazis als auch die zuerst verfolgten Juden waren Deutsche, und sowohl die Stasi als auch die Ossis und Wessis waren und sind Deutsche. Ich gehöre einem Volk von autoagressiven Ritzern an. Keine schöne Vorstellung.

Die 10 Filme zeigen ein so unterschiedliches, ein diverses Deutschland. Ein lebendiges, wenn auch nicht immer idyllisches oder positiv stimmendes Deutschland.



Samstag, 8. Februar 2020

Fest verankert im Hier und Jetzt

Im Prinzip stehe ich voll und ganz hinter dem Konzept vom Leben im Hier und Jetzt, Nur JETZT kann ich fühlen, kann ich sein, kann ich (nach)denken. Nur im Augenblick lebt sich das Leben. Ja, ich kann in meinen Gefühlen in der Vergangenheit gefangen sein, kann durch meine Erinnerungsdämonen vergangenen Traumata verhaftet sein. Aber das passiert JETZT. Und genauso kann ich nachdenken, Pläne machen für die Zukunft. Kann in Visionen und Träumen in der Zukunft sein. Und doch sehe ich die Vision jetzt, träume ich jetzt. Insofern bin ich fest verankert im Hier und Jetzt.
Doch dann bin ich gedanklich abwesend, befinde mich in den Schweizer Alpen, und - Schwupps - kippe ich das heiße Kaffeewasser in die Kaffeedose. Ich habe schallend gelacht über mich. Auch wenn ich doch nicht so fest im Hier und Jetzt verankert bin, so bin ich doch entspannt im Hier und Jetzt.



Sonntag, 2. Februar 2020

Othello

Es ist und bleibt eine Horrorgeschichte. Wie Jago aus Neid und Rachsucht Othello in den Wahnsinn treibt, so dass er aus Eifersucht Desdemona tötet und dann sich selbst. Falls eine*r eine detaillierte Zusammenfassung braucht: Michael Sommer erklärt es mit Lego-Figuren in 13 Minuten auf YouTube https://youtu.be/11ipitShvIY.

Man kann die Geschichte so oder so erzählen, von Rassismus bis Partnergewalt gegen Frauen ist da alles drin, schliesslich wird ja auch Emilia von ihrem Mann Jago umgebracht.

Das Theater Vorpommern hat Othello heute Abend als Ballett uraufgeführt. Premiere. Die Musik ist eine Auftragskomposition von Michio Woirgardt.
Es ist und bleibt eine Horrorgeschichte. Doch zu erleben, wie die Musik die Erzählung vorantreibt, wie der Schwerpunkt für Othellos Handeln über posttraumatische Belastungsstörung erklärt wird, wie das mit Videomaterial auf blanken Leinwänden untermalt wird. Überhaupt das Bühnenbild, das so karg ist mit den weißen hängenden Leinwänden, die fast nur durch aufgeleuchtete Farben reden. Die Kostüme machen das Ambiente, definieren Zeit und Raum, das Bühnenbild ist zeitlos. Und dann dieser Jago. Klein, weil kleinlich, hässlich, weil voller Hass, bösartig durch und durch. Ich kenne die Tänzer des Ensembles, habe Armen Khachatryan, den Darsteller des Jago, schon in verschiedenen Rollen erlebt. Doch so präsent noch nie. Wie ein einzelner bösartiger Mensch soviel Leid verursacht.

Überhaupt - die Schritte und Figuren sind sehr klassisches Ballett. Doch die Inszenierung mit der modernen Musik lässt mich das immer wieder vergessen. Ich kann das gar nicht beschreiben. Anderthalb Stunden Tanz vergehen wie im Flug, die Schlussszene mit dem triumphierenden Grinsen, frohgemuten Lächeln Jagos, umgeben von den posttraumatischen Gespenstern, das ist großes Kino, äh super inszeniertes Ballett.
Die Musik klingt weiter in meinen Ohren, die Bilder, die Tänzer und Tänzerinnen geschaffen haben, bleiben auf meiner Netzhaut. Ganz großes Theater.