Sonntag, 31. März 2019

Vorurteile

Normalerweise bin ich dienstlich in Neubrandenburg, sprich ich bin an der dortigen Hochschule zu irgendeiner Veranstaltung oder Besprechung. Dementsprechend kenne ich die Hochschule, und den Weg dorthin, sei es mit dem Auto oder mit der Bahn.
Insofern finde ich Neubrandenburg ziemlich räudig, der Marktplatz ist einfach nur quadratisch mit Neubauten drumherum. Das ist der Weg, den man vom Bahnhof zur Hochschule geht. Mit dem Auto fährt man zweispurig um die Innenstadt.
Ich gebe es ja zu, ich habe üble Vorurteile gegenüber Neubrandenburg. Das Lied von Rainald Grebe könnte statt Brandenburg auch Neubrandenburg heissen. So jedenfalls mein Bild.

Nun also spaziere ich privat an einem sonnigen Sonntag Nachmittag durch Neubrandenburg, und bekomme die schönsten Ecken gezeigt.
Gleich gegenüber des Bahnhofsgeländes liegt der alte Wall und die mittelalterliche Stadtmauer. Wir spazieren entlang der Mauer, ich bewundere die kleinen Wiekhäuser, die in regelmäßigen Abständen auf der Mauer kleben. Erfreue mich an den restaurierten Stadttoren, und den Ein- und Ausblicken.



Wir machen einen Spaziergang entlang des Oberbaches, hin zum Tollensesee. Kaffee trinken auf der Terasse des Cafes mit Blick auf das glitzernde Wasser. Beim Weitergehen ein Segelboot mit geblähten Segeln auf dem See, wie bestellt für ein Bilderbuchbild. Ich bekomme das Augusta-Bad und den Kulturpark gezeigt.





Ich bin überrascht vom Charme Neubrandenburgs, bin überrascht von der ansprechenden Kunst im öffentlichen Raum. Die Tierfiguren des Künstlers Walther Preik, die an verschiedenen Stellen im öffentlichen Raum stehen, gefallen mir gut.


Und muss mal wieder feststellen: ein Vorurteil ist ein Urteil, beVOR man etwas kennen gelernt hat. Und es stimmt oft, vielleicht sogar meistens, nicht. In Neubrandenburg stimmt mein Vorurteil jedenfalls nicht. Die Stadt ist knuffig, mit schönen Ecken und der wundervollen Anbindung an den Tollensesee. Und einem guten "Italiener" zum Abendessen. Ein Lob auf einen schönen Tag in einer schönen Stadt.



Sonntag, 24. März 2019

Digitalisierung in Estland

Delegationsreise mit Minister Pegel nach Estland, drei Tage, zwei Städte. Thema Digitalisierung und Innovationszentren. Und weil wir schon mal da sind, Eröffnungsfeier des Saksa Kevad, des Deutschen Frühlings, nehmen wir auch noch dran teil.



Ach ja, Städtepartnerschaften haben wir ja auch noch, schnell noch eine Kunstausstellung in Tallinn von Schweriner Künstlern eröffnen und eine Kooperationsvereinbarung zwischen Greifswald und Tartu unterschreiben.


Die drei Tage sind völlig überfüllt mit Terminen. Mich interessiert Digitalisierung ein bisschen und Innovationszentren sehr. Den Rest nehme ich so mit.




Estland ist klein, hat wenig Geld, also haben sie seit 1991, seit Neugründung des Staates, konsequent ihre Verwaltung digitalisiert. Und sich quasi nebenbei ein prosperierendes Geschäftsfeld geschaffen. Denn ihr Know how verkaufen sie jetzt in die Welt. Ich höre Vorträge über e-Governance, über die X-Road, höre immer wieder Diskussionen über Datensicherheit, lerne Worte wie Information Security Officer und Cyber Defense Exercises, Cyber Hygiene und Awareness. Denn zum Schluss läuft es auf zwei analoge Tugenden hinaus, Vertrauen und Verantwortung: ich muss Vertrauen haben, dass mein Staat meine Daten sicher schützt vor Übergriffen. Sowohl vor Übergriffen frender Staaten und Einzelpersonen als auch vor Übergriffen eigener Behörden. Ich muss sicher sein, dass meine Privatsphäre privat bleibt. Und ich muss die Verantwortung übernehmen, zu kontrollieren, wer Zugriff auf meine Daten nimmt. Dahinter stecken tricky Fragestellungen: die Balance zwischen Neugier und Notwendigkeit, die klare Ahndung von unerlaubtem Zugriff auf Daten, die Unterbindung von Datenzusammenführung bzw. die getrennte Aufbewahrung unterschiedlicher Datensätze, um Missbrauch von vorne herein zu verhindern. Es braucht ein klares Digital Mind Set. Inklusive des Wissens, dass bei Datenmissbrauch über ID-Nachverfolgung harte Sanktionen sofort erfolgen. Ein Cultural Mind Set zu Digitalisierung also.

Nach solchen tiefschürfenden Diskussionen erweisen sich die Innovationszentren überraschend normal.



Kernfrage ist natürlich: was macht innovative Produkte möglich?
Und die Antwort ist für mich: freien Raum zum Ausprobieren , sowie Anregungen zum Tun. Ein drei W-Prinzip. Also ein Wow Room, ein Show Room, was bereits neu ist, Werkstätten für Prototypen auszuprobieren und Workshops, die meine Skills erweitern. Sparks in Tartu erinnert mich an ein Jugendzentrum, gekreuzt mit dem Werkraum einer Schule, angedockt an eine Firmenmesse. Im Mektory in Tallinn sind die Werkräume eher Berufsschulniveau, und die Seminarräume wirken deutlich gelackter. Aber hier klebt auch an fast jedem Raum das Label einer internationalen Firma. Aber das Prinzip ist gleich: Raum, Material und Know how bereitstellen für Start ups.
Da die Stärke eher in wissensbasierten Produkten, wie IT-Security liegt, und nicht im gewerblichen Bereich, ziehen sie die Aufmerksamkeit der großen Firmen auf sich und verkaufen ihr Können im Bereich Softe Produktion. Und prosperieren. Und manches Mal ist doch eine coole Entwicklung in einem gewerblichen-technischenm Bereich dabei.
Auf jeden Fall nehme ich eine Menge Anregungen von dieser Reise mit nach Hause zurück. Manches wird sich leicht umsetzen lassen, manches erst auf lange Sicht.

Besonderes und schräges

Wie auf jeder Reise fällt mir Besonderes, Schräges und Ungereimtes auf. Und manches hat gar nicht mit der Reise zu tun, beschäftigt mich aber trotzdem.

Frisch geschult im Dritten Geschlecht fällt mir die estnische Lösung besonders auf: es gibt vorwiegend Unisex-Toiletten. Doch die Symbolgebung ist gewöhnungsbedürftig: Frauen tragen einen Rock, von daher haben sie das aufgerichtete Dreieck. Das weibliche Schoßdreieck als nach unten gerichtetes Dreieck wäre mir persönlich logischer als Frauenzeichen. Das Symbol leitet sich also vom sozialen Geschlecht ab, nicht vom biologischen Geschlecht.



Die Esten werden uns als Meister*innen der Pünktlichkeit vorgestellt. Pünktlich heisst hier 10 Minuten zu früh. Insofern hängen überall Wanduhren, manche in ungewöhnlichem Design.

Mektory in Tallinn 

Swissotel in Tallinn

Die Russ*innen stellen mit 300.000 Personen auf 1,3 Millionen Einwohner*innen die größte Minderheit in Estland dar. Viele Beschriftungen sind dreisprachig: estnisch, englisch, russisch. In der Altstadt von Tallinn fällt es besonders auf, vermutlich gibt es einen hohen Anteil von russischen Tourist*innen.

Der russische Bär macht Werbung für ein Restaurant.
Manchmal sehe ich aber auch Relikte aus der Sowjetzeit, die mich daran erinnern, dass Estland mal zu Russland gehörte.

Der Sowjetstern krönt immer noch das Haus.
Auf dem Rückflug sitze ich neben einer der wenigen Kulturwissenschaftlerinnen der Delegation. Sie zieht eine Zeit aus der Tasche. Ich sehe das Titelbild, wundere mich, denn das ist meiner Meinung nach schon etwas älter, ein paar Wochen oder so. Nun - es ist zwei Jahre alt, von April 2017. Sie meint, sie kommt nicht zum Lesen. Die Schlagzeilen mit Erdogan klingen aktuell... Über die Schulter lese ich mit, der Artikel zu den archäologischen Totenritualen fasziniert mich. So vieles, was wir an Trauerhandlungen ausführen, ist im archäologischen Befund nur schwierig nachzuweisen, wie die Niederlegung von Blumen oder das Entzünden von Kerzen.


Im Artikel geht es vorwiegend um Schnittspuren an den Knochen, um die Behandlung des Leichnams nach dem Tod, um Exhumierung. Nichts, was mir im heutigen Europa noch relevant erscheint. Doch dann merke ich auf: im heutigen Griechenland soll die älteste Tochter die Pflicht haben, die exhumierten Knochen zu reinigen, in Wein zu baden. Puhah. Ich bin die älteste Tochter. Zum Glück keine orthodoxe Griechin. Denn es ist wirklich so: Totenrituale in Teilen von Griechenland schreiben vor, dass 5-7 Jahren nach dem Tod von jemand so gehandelt wird. Da habe ich es mit Sechs-Wochenamt und Jahresgedächtnis als katholische Deutsche doch einfacher.
Friedhöfe habe ich auf diesem Kurztrip gar nicht besucht. In diesem Land, Estland, vielleicht auch nochmal ein besonderes Erlebnis mit seinen sehr verschiedenen Religionen, wovon die nicht religiös gebundene Gruppe die größte ist.

Samstag, 23. März 2019

Tartu

Tartu zeigt sich in ganz anderem Licht als Tallinn. Es ist ein klarer Tag, die Sonne scheint. Wo Tallinn Mittelalter ausströmt, ist Tartu eher Klassizismus in der Innenstadt. Aber vor allem Universitätsstadt.




Die Hochschulgebäude sind in der ganzen Stadt verteilt, gefühlt gibt es nur junge Leute hier. Der Bürgermeister erzählt nachher, 100.000 Einwohner, dazu 20.000 Studierende bzw. 50 % der Einwohner unter 35. Viele der Studierenden bleiben nach Abschluss des Studiums also da, finden Arbeit, auch in den Start-Ups, wegen denen wir nach Estland gereist sind.


Nicht nur Tallinn, auch Tartu hat Weltkulturerbe. In der alten Sternwarte der Universität Dorpat (wie Tartu damals hieß) ist ein Punkt des Struve-Bogens verankert. Damit wurde Anfang des 19. Jahrhunderts (um 1810 herum) begonnen die Erdkrümmung zu berechnen. Im Prinzip obercool. Mathematik eingeschrieben in die reale Welt, in geographische Entfernungen. Ein wissenschaftliches Messinstrument ziemlicher Größe.



Der Urahn der Mädchen war von 1858 bis 1863 Professor für Ethnologie, Geographie und Geschichte in Dorpat. Erst Zeit seines Lebens haben sich die Professionen richtig getrennt, so dass er in Dorpat 1863-69 Professor nur für Geschichte war; und nach der Flucht von 1874 bis zur Eremitierung 1907 in Kiel ebenfalls (und Dekan 1863-67 in Dorpat und später 1878/79 Rektor in Kiel, aber das ist eine andere Geschichte).

Dieser Ur-, Ur-, Urgroßvater väterlicherseits der Mädchen ist Deutsch-Balte gewesen. Um 1870 herum ist er mit Familie aus Dorpat nach Deutschland geflüchtet. Dorpat, das heutige Tartu, war damals ein Teil von Russland. Erst 1918 ist Estland das erste Mal unabhängig geworden, bis zum Einmarsch der Russen 1940; seit 1991, mit dem Ende der Sowjetunion, sind sie wieder ein souveräner Staat. Vorher waren sie auch mal schwedisch oder deutsch. Dieser Ur-, Ur-, Urgroßvater hat sich laut und öffentlich gegen die Russifizierung geäußert. Bis 1860 waren Esten, Deutsche und Russen eher gleichberechtigt im Baltikum, ab 1870 eher nicht. Und Deutsch-Balten waren nicht mehr gern gesehen, schon gar nicht welche, die auf ihren althergebrachten Rechten beharrten.
Es gibt Menschen in Deutschland, Deutsch-Balten, die diesen Urahn hochhalten, die Familie selbst steht dem eher fremd gegenüber. Auch ich sehe in meinen Kindern keine (ehemaligen) Deutsch-Balten, keine Kinder mit Migrationshintergrund oder gar Nachkommen politisch Verfolgter. Dieser Teil der Familiengeschichte ist in meinen Augen zu lang her, um Auswirkung auf den Alltag zu haben. Aber das ganze Thema beschäftigt mich doch.
So versuche ich in der Diskussion mit dem Leiter des Goethe-Instituts in Tallinn zu verstehen.
Waren die Deutsch-Balten böse Kolonialisten gegenüber den Esten, oder waren sie Kulturbringer, Kulturförderer in Estland. Er meint, sowohl als auch. Es hängt, wie so oft, vom konkreten Verhalten der einzelnen ab. Was sie auf keinen Fall waren, ist assimiliert. 700 Jahre deutsche Oberschicht in Estland, egal ob unter schwedischer oder russischer Herrschaft, mit deutscher Sprache, vermutlich auch mit deutschem Essen, deutschen Bräuchen und deutscher Kultur (wie immer das genau ausgesehen haben mag, auf jeden Fall haben sie die Reformation angenommen und waren Lutheraner). Die Universität Dorpat hatte als Unterrichtssprache deutsch. Obwohl sie lange die einzige Universität im russischen Reich war. Es kommt mir vor wie Deutsche, die im Ausland leben. Und da als Akademiker und Kaufleute nicht die Bindung an eigenen Grundbesitz im Selbstbild konstituierend ist, sondern die Bindung an die Wissenschaft oder den Handel, kommt durch die Sprache und gelebte Kultur ein anderes Selbstverständnis zustande als vielleicht bei Adligen. Auf jeden Fall gehe ich durch die Stadt und versuche mir vorzustellen, wie das hier war vor 150 Jahren, als der Urgroßvater mit seinen sieben Kindern hier lebte.








Freitag, 22. März 2019

Tallinn

Delegation mit Minister Pegel nach Estland. Zwei Tage Tallinn, ein Tag in Tartu. Volles Programm ohne Pause, ein Termin jagt den nächsten. Vom Bus aus, der uns von einem Treffen zum anderen fährt, erhasche ich einen Blick auf die Stadt. Für Busse ist die Fahrt durch die Altstadt verboten, von daher fahren wir immer aussenrum. Die einzelnen Einblicke durch Stadttore, über Stadtmauern hinweg und die unterschiedlichen Kirchtürme machen neugierig.

Also seile ich mich an einem geeigneten Punkt ab, und laufe eine halbe Stunde durch die kalte (Vor-)Stadt in die Altstadt.
In Estland sind im März die Temperaturen noch um Null Grad, ziemlich warm gegenüber den Winterminustemperaturen.



Die Altstadt und der Domberg stehen unter Weltkulturerbeschutz. Und selbst im einsetzenden Regen ist die Stadt noch wunderschön.



Doch auch der Rest der Stadt ist spannend. Unser Hotel ist auf ein altes Haus aufgesetzt. Und der Blick auf den Sonnenaufgang aus meinem Zimmer im 17. Stock ist phänomenal.


Sonnenaufgang am 1. Tag
Sonnenaufgang am 2. Tag
Beim Spaziergang durch Kadriorg, den alten Stadtteil mit den vielen Holzhäusern und schrägen Läden finde ich DEN Laden, der nur Papier führt. Nicht irgendwelches Papier, sondern buntes Papier von A4 bis A1, bedruckt, durchgefärbt, alles was das Herz begehrt. Als Mitbringsel kaufe ich ein handgemachtes, handgebundes Buch.




Solche Läden verführen mich, neben der wirklich schönen Altstadt, hier wieder hin zu wollen. Zumal ich die Ostsee nur aus dem Fenster des Frühstücksraumes im Hotel gesehen habe. Tallinn, ich komme wieder.

Mittwoch, 20. März 2019

Dreifachpunkte

Als meine Kollegin mich fragt, ob ich mir vorstellen kann, mit einer Delegation des Energieministeriums MV zum Thema Digitalisierung nach Tallinn und Tartu zu fahren, bin ich erst etwas zögerlich. Drei Tage weg, wo sich die Arbeit auf dem Schreibtisch stapelt, führen definitiv nicht zu einer Verringerung meiner Arbeitsbelastung. Doch als ich das Programm sehe, fange ich an zu wanken. Besuch von gleich zwei an Hochschulen angebundene Innovationszentren plus ein Vortrag zum Zusammenarbeiten von Wissenschaft und Wirtschaft. Das ist für mich Wissen für die Praxis, für den Alltag. Wir sollen mittelfristig auch so ein Zentrum bekommen. Ich sage also zu. Als die Teilnehmer*innenliste kommt, bin ich doppelt froh, zugesagt zu haben. Da sind eine Menge Leute drauf, die ich sowieso dienstlich kennenlernen wollte.

Und dann sickert es so langsam in meinem Gehirn durch. Ich fahre nach Tallinn und Tartu. Ein Hauptstadtpunkt und zwei Weltkulturerbepunkte für meine Challenge. Bei beidem liege ich hinten. Noch ein Grund zuzusagen. Ein weiterer Grund: meine Kinder haben familiäre Wurzeln in Tartu. Ein Urahn war da Professor.

Okay, ich sage gerne zu, dass ich mitfahre. Soviel gehaltvolle Gründe für eine Reise habe ich selten.

Flörken

Kind 2 will nicht allein ins Kino. Von ihren Freund*innen interessiert sich keine für die Avengers. Ich geh zu selten ins Kino, um überhaupt einen von den Filmen aus dem Marvel-Universum gesehen zu haben. Doch ich mag Actionfilme, mag Fantasy und gute Geschichten, kann Science-Fiction ab. Also gehe ich mit. Captain Marvel heißt der Film. Und verbringe vergnügliche Stunden im Kino. Weibliche junge weiße (Super-)Heldin als Hauptfigur, weibliche alte weiße und weibliche junge schwarze Nebenfigur, dazu zwei männliche nicht ganz so junge schwarze und weiße Nebendarsteller. Gute Geschichte, guter Plot, handwerklich gut gemacht, und dann auch noch politisch korrekt.

Aber darüber will ich gar nicht erzählen. Sondern über den Flörken. Für mich die heimliche Haupt-Nebenfigur. Ein roter Katzenkater, der aber kein Kater ist, sondern ein Flörken. Irgendwie ein Wesen, das Tintenfischtentakel ausfahren kann. Nun ist der Kater bei Captain Marvel rot, und mein Kater ist weiß. Trotzdem habe ich seitdem die leise Vermutung, dass er vielleicht auch nicht ist, wonach er aussieht. Denn er thront im Moment morgens über meinem Bett, beobachtet mich beim Schlafen, macht mich mit Anbruch der Dämmerung ohne Erbarmen wach, jagt mich aus dem Bett. Hindert mich am Tagebuch schreiben, am schriftlich reflektieren des Tages. Hört sich doch irgendwie nach feindlichem Geheimagent mit Mission an, oder?


Dienstag, 19. März 2019

Dritte Option

Das Personenstandsgesetz ist geändert worden. Neben Frauen und Männern gab es seit längerem die Möglichkeit das Feld freizulassen. Nun gibt es zusätzlich die Möglichkeit divers anzukreuzen. Die Dritte Option hat also gesetzlich eine vierte Option zur Folge. Das hat direkte Auswirkungen auf meine Arbeit als Gleichstellungsbeauftragte. Von daher freue ich mich, dass die Kollegin an der Hochschule Neubrandenburg eine Fortbildung dazu organisiert hat. Drei Stunde volles Programm zu einer nicht mehr binären Geschlechterwelt. Nicht mehr nur Frauen und Männer, sondern Intersexe jedweder Couleur. Bei Facebook kannst du unter 64 Varianten wählen ...

Es geht darum, Vielfalt, Diversität sichtbar zu machen, unsere oft engen Rollenmodelle zu hinterfragen bzw. zu erweitern. Die vielfältige, reiche Welt abzubilden. Menschen, die nicht unserer Standard-Vorstellung entsprechen, die nicht genormt sind, die Möglichkeit geben, sich zu zeigen, repräsentiert zu werden. Nicht anders zu sein, sondern weitere Facetten des Mensch-Seins zeigen.

3 % der Menschen fallen statistisch unter Inter, davon sind z.zt. 0,5-1% sichtbar bzw. bekannt. Und nur weil ich einen Menschen als männlich oder weiblich lese, heißt das noch lange nicht, dass er oder sie sich selbst auch so sieht. Deutsche Sprache in ihrer Fixiertheit aufs Geschlecht bringt uns da in Teufels Küche. Doch die vorgeschlagene Lösung der beiden jungen Referentinnen ist für mich keine. Nach dem Pronomen zu fragen, mit dem diese Person angesprochen werden will, er, sie oder es, ist mir im Hochschulalltag zu persönlich. Überschreitet für mich Höflichkeitsgrenzen, dringt für mich in den persönlichen Raum einer Person.

Ich lerne noch ein neues Wort. Cisfrau.
Transfrauen sind Frauen. Und die Standardfrau ist eine Cisfrau. Fertig. Beides sind Frauen, ohne das das jetzt noch lange diskutiert werden muss. Ich bin eine Cisfrau.
Für mich ist das so selbstverständlich, dass es mich verwundert, wie sehr es betont wird. In der grossen Gruppe der Frauen gibt es eben Transfrauen und Cisfrauen. Und vermutlich noch ein paar mehr Spielarten, die nur nicht benannt sind. Es gibt zig Möglichkeiten, wie biologisches Geschlecht definiert werden kann, wie soziales Geschlecht gelebt werden kann, und wie beides miteinander verbunden werden kann.

Ich bin eine Cis-Frau. Biologisch und in meiner Selbstwahrnehmung, Selbstzuschreibung.
Sprache erzeugt Bilder in unseren Köpfen. Deshalb ist es so wichtig, Dinge zu benennen, in einen guten Kontext zu bringen. Von daher bin ich überzeugt, dass an dem vieldiskutierten Framing der ARD was dran ist. Sprache ist mächtig, Sprache formt die Wahrnehmung unserer Welt, ich denke an LTI von Klemperer, an GFK von Rosenberg.

Die gesetzliche Einführung eines dritten Geschlechts, die Möglichkeit, ausser männlich oder weiblich was anderes zu sein, eine weitere Option zu haben über das enge binäre Konzept unserer Kultur hinaus, hat für mich, für meine Arbeit als Gleichstellungsbeauftragte Folgen. Ich leite meine Massnahmen von der unterschiedlichen Repräsentantion der Geschlechter ab. 50 % Frauen in der Bevölkerung heißt für mich - platt gesagt - 50 % Studentinnen, 50 % Mitarbeiterinnen, 50 % Professorinnen. Egal wo, egal in welchem Bereich. Aufgrund der oft kleinen Gruppen akteptiere ich ein Geschlechterverhältnis von 40/60 noch als ausgewogen. Hier kann ich jetzt Raum für eine weitere Gruppe schaffen. Damit ist das Wort Frauenquote aber endgültig obsolet. Um einen gewünschten geschlechtergerechten Proporz zu beschreiben, muss ich vermutlich ein Wort wie Repräsentativquote einführen.

Facebook hat 64 Kategorien Geschlecht zu definieren, gesetzlich gibt es jetzt vier. Die Dritte Option ist ein Sammelbegriff, Gesetze bilden die Realität halt nur grob und unvollkommen ab.


Sonntag, 17. März 2019

Lancashire Cotton Famine

Gestern war mal wieder Bugewitz. Tanzen bis der Arzt kommt. Mit der Band Faustus aus Großbritannien, aus der Nähe von Newcastle. Angekündigt als Dark Folk war es grundsolider englischer Folk mit Fiddle, Akkordeon und Akustik-Gitarre. Lieder aus dem Nordwesten und Südwesten Englands. Was das Besondere war: sie interessieren sich für politische Lieder, für Arbeiterlieder. Und so höre ich zum ersten Mal in meinem Leben von der Lancashire Cotton Famine. In den 1860ern, durch den Bürgerkrieg in den Staaten, kam keine Baumwolle mehr über den Atlantik in die Baumwollspinnereien (Cotton Mills). Dementsprechend wurden alle Arbeiter und Arbeiterinnen entlassen. Famine heißt Hungersnot, dachte ich. Ja, heißt es auch. Es heißt aber auch Verknappung, in Bezug auf Lebensmittel Richtung Hunger, Verelendung. Das Konzert inkl. aller Ansagen war in Englisch, sogar klarem Englisch. Trotzdem, manche Vokabeln, manche Wörter sind mehrdeutig. Vier Millionen Menschen hat diese Lancashire Cotton Famine in England betroffen, ein Fünftel der damaligen Bevölkerung Englands. Erinnert ihr euch noch daran, wie es hier in Vorpommern war, mit 20% und mehr Arbeitslosigkeit?
Und diese Famine "nur", weil die Nordstaaten Amerikas gegen die Südstaaten Krieg geführt haben. Gründe für den Krieg? Abschaffung der Sklaverei. 1861-1865. Vier Millionen Sklaven gab es damals, davon zwei Millionen in den Baumwollfeldern laut Booklet. Eigentlich war die Ursache für diesen Krieg also vielleicht was Gutes, aber Folgen hatte er für die gesamte Welt. Nicht nur für England; auch nach Frankreich wurde damals Baumwolle aus den USA exportiert, auch dort kam die Produktion zum Erliegen. Es wurde dann versucht, in Ägypten und in Indien vermehrt Baumwolle zu produzieren, mit Folgen für die dortige Bevölkerung. Die nicht mehr genug Grundnahrungsmittel produzierten UND nach Beendigung des Sezessionskrieges und der Wiederaufnahme der Baunwollproduktion in den Südstaaten ihre Baumwolle nicht mehr loswurden. Doch das ist eine andere Geschichte.

In England hatten zu dieser Zeit vermehrt Menschen gerade lesen und schreiben gelernt, im Booklet steht, die Lancashire Mill Worker waren die höchst bezahlten Arbeiter in England zu der Zeit, 1860. Alphabetisierung der Arbeiterschaft. So waren sie in der Lage, ihr Leid, ihre Not in Gedichte zu packen, die dann gedruckt wurden. Fünf von diesen über 500 erhaltenen Gedichten hat die Band Faustus vertont und natürlich auch gleich auf dem Konzert vorgetragen. Sie sind Teil eines Forschungsprojektes zu diesen Gedichten.

Ich bin sonst zögerlich mit CDs kaufen. Die Erfahrung sagt, ich höre sie doch nicht wieder. Diesmal jedoch bin ich schwach geworden. Zum einen finde ich das eine der fünf Lieder, Cotton Lords, musikalisch klasse, dazu auch noch tanzbar. Zum anderen beindrucken mich bei zwei Liedern die Texte und die Musik bei einem weiteren Lied. Ein Anti-Kriegslied ist dabei, ein Lied von/über ein junges Arbeitermädchen, ein Schrei um Hilfe gegen den Hunger. Alles Gründe, mir die CD zuhause wieder anzuhören.

Manchmal ist ein Ausflug nach Bugewitz nicht nur gute Musik, sondern auch ein Bildungsprogramm.

Mittwoch, 13. März 2019

Kulturtipps

Anfang Februar bin ich mit dem ICE von Köln nach Berlin gefahren. Um mich herum saßen fünf junge Frauen, die auf dem Rückweg nach Hause waren. Ich habe still wie Mäuschen auf meinem Sitzplatz gesessen, mit weit aufgesperrten Blumenkohlohren. Es war Comedy der feinsten Sorte, sie haben sich die Bälle zugeworfen, über Männer, Arbeitskolleginnen und ihre jeweilige Wohnsituation. Vergnügliche anderthalb Stunden. Erst gegen Ende schälte sich heraus, wo sie herkamen. Sie waren in Düsseldorf im Theater. Extra von Hannover nach Düsseldorf gefahren. Nicht für irgendein Theaterstück, sondern für Woods of Birnam. Mit diesen beiden Informationen habe ich mich ins Internet eingeloggt.

Normalerweise bekomme ich meine Kulturtipps entweder von meinem Kollegen Ralf oder von meiner Whatsapp-Gruppe "Whatslos in Stralsund". Beide schicken aber meistens gleich einen Link mit. Selten sind die Informationen so kryptisch wie in diesem Fall. Also ab ins Internet zur Recherche. Woods of Birnam war Musik, soviel war klar. Und was genau das Theaterstück war, ließ sich im zuhören nicht genau herausfinden. So weiß ich nicht, ob sie Hamlet oder 1984 gesehen haben. Sie haben nur abgesprochen, dass sie nochmal zu der anderen Aufführung fahren.

Denn - Woods of Birnam ist eine Band um den Schauspieler Christian Riedel. Die zur Zeit eben diese zwei Stücke im Schauspielhaus in Düsseldorf bespielen.  In den Ankündigungen klingen beide Theaterstücke interessant. Ich habe Lust, sie mir anzugucken. Und siehe da, Ostersonntag, wenn ich sowieso im Rheinland bin, wird Hamlet gegeben. Flugs zwei Karten gekauft für Kind 2 und mich, und nun bin ich mal gespannt, ob der Kulturtipp so gut ist, wie die Frauen im Zug erzählt haben.

WWW

WWW. Was für eine wilde Woche.
Im Prinzip ist jedes Jahr die Woche vom Internationalen Frauentag eine wilde Woche. Genauso wie die Karnevalstage, die Woche nach dem Urlaub. Und dieses Jahr fällt das alles zusammen UND ich fahre nach Kiel zum Konzert. Die dienstlichen Termine türmen sich tagsüber, jede und jeder will mit mir was absprechen, will eine Zuarbeit zum Hochschulentwicklungsplan, zum Professorinnenprogramm, zur geplanten Delegationsreise nach Estland. Frauentag heißt Abendprogramm mit Festveranstaltung von Stadt und Landkreis im Theater, heißt Empfang der Ministerpräsidentin in Schwerin, heißt eigener Vortrag zu Väterbildern in der Hochschule. Alles gut gemeistert. Karneval ist ein bisschen zu kurz gekommen, dafür war ich lieber auf einem Musikkonzert in Bugewitz und habe Weltgebetstag der Frauen mit den Velgaster*innen gefeiert. Diese Woche, die Woche nach dem Frauentag, ist dafür so entspannt wie lange keine mehr.

Lesung im Theater Stralsund zu
Frauengeschicht(en) vor und nach der Wende 

Die Ministerpräsidentin MV
macht ein Selfie mit uns

Frauentag in der Hochschule mit Kulturprogramm

Weltgebetstag aus Slowenien 

Samstag, 9. März 2019

Werte

Die meisten Bilder sind wieder da. Mein IT-Dealer hat seine ganze Kunst aufgewendet, und in den Tiefen der SD-Karte die meisten Bilder wiedergefunden. Die meisten. Manche Bilder sind unwiederbringlich weg.



Ich habe ohne zu zögern, meinen IT-Dealer beauftragt, sich zu kümmern. Mit dem klaren Bewusstsein, dass es mich Geld kostet. Viel Geld, habe ich vermutet. Und mich gefragt: Was sind mir meine Bilder wert?
Was ist mir überhaupt wieviel wert? Denn die Bilder sind ja digital, ich habe da in der materiellen Welt nur den SD-Chip in der Hand. Der kaputt genauso aussieht wie heile. Meine Bilder sind ja noch immateriell, sind nur Datei. Und stellen ja auch ersteinmal einen immateriellen Wert dar. Sie sind Erinnerungsanker für mich, zeigen einen Ausschnitt aus meiner Vergangenheit. Sie dokumentieren Erlebnisse, die ja genauso immateriell sind. Erlebnisse kosten Zeit, sie sind mir meine Zeit wert. Die Bilder kosten mich keine Zeit, normalerweise auch kein Geld. Erst wenn ich sie ausdrucke, sie materialisiere, kosten sie mich Geld. Sie kosten mich Zeit, wenn ich sie anschaue, mich erinnere.

Kann ich diesen Wert für mich in Geld schätzen? Was sind mir meine Bilder wert? Wieviel Wertschätzung bringe ich meinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen entgegen? Und was mache ich, wenn es nicht klappt? Habe ich dann das Gefühl, viel Geld für Nichts ausgegeben zu haben?

Auf jeden Fall bringe ich mir, meinem Leben, meinen Erlebnissen und Erinnerungen, der Dokumentation davon soviel Wertschätzung entgegen, dass ich bereit bin, dafür Geld auszugeben, dass ich bereit bin, Zeit zu investieren, mich zu kümmern. Und das Risiko eingehe, keinen, nicht mal immateriellen Gegenwert zu erhalten. Dafür aber Gewissheit. Im Endeffekt gebe ich das Geld aus für die Gewissheit, ich habe es versucht. Und muss mich nicht länger mit der Ungewissheit herum schlagen, was da vielleicht noch auf dem Chip drauf ist.

Ich gebe mein Geld aus für gleich zwei große meiner Werte. Ich gewinne Klarheit, und ich habe mein Möglichstes getan.

Donnerstag, 7. März 2019

Sekundenglück

Konzertvorbereitung. Die Eintrittskarten hängen schon seit Monaten am Kühlschrank, gekauft in den ersten 30 Minuten nach Öffnung des Vorverkaufs im Internet. Die Zugfahrkarte nach Kiel hängt seit Wochen daneben. Mit Erscheinen des Albums immer wieder bei YouTube reingehört. Doch dann geht es richtig los: Rucksack packen, Daypack mit Minimalausstattung. Konzertkarte, Fahrkarte, Portemonnaie, Handy und Ladekabel. Alles andere lässt sich improvisieren. Und auf zum Bahnhof.
Vorm Konzert in Kiel mit Kind 1 und der langjährigen Freundin (seit 1990) noch vornehm essen gehen an der Kiellinie. Ich habe die Konzertkarten bezahlt, sie bezahlt das Essen. Und dann geht es los. Die Halle ist ausverkauft, wir finden gerade noch in relativer Nähe einen Parkplatz.

Ich habe lange gezögert, welche Plätze ich kaufe. Ich kenne die Halle von anderen Konzerten. Eigentlich nur Sitzplätze. Egal. Ich entscheide mich für den Innenraum. Weil - da kann man wenigstens aufstehen und an den Seiten tanzen. Die Karten, die ich zugeschickt bekommen habe, reden schon gar nicht mehr von Sitzplatz. Stehplatz Innenraum ist da die Aussage. Zu dem Zeitpunkt ist das Konzert aber auch schon ausverkauft. 9000 Leute sind wir an dem Abend. Auf dem Hinweg zum Konzert hören wir die neue CD. Tumult von Herbert Grönemeyer. Soviele Sekunden Glück, soviele Sekunden Intensität schon in der Vorbereitung aufs Konzert.



Und dann fängt es an. Gleich mit "Sekundenglück". Und so geht es Lied auf Lied. Die neuen und die alten Lieder. Wir stehen unten, links der Bühne, die weit hineinragt in das Publikum. Können ihn relativ gut direkt sehen, egal wo auf der Bühne er sich gerade befindet. Große Leinwände im Hintergrund zeigen sowohl Grönemeyer in Echtzeit bei den alten Songs als auch Projektionen, Grafiken, Farben als Begleitung in den neuen Liedern. Gänsehaut bei manchen seiner Ansagen. Als er die Bedeutung jedes Einzelnen  betont, dass man sich mit sich selbst auseinandersetzen muss, mit den eigenen inneren Feindbildern. Aber insgesamt sagt er nicht viel. Sondern lässt die Lieder, die Texte für sich sprechen. Und singt meine beiden Lieblingslieder von ihm: Mensch und Sie mag Musik nur wenn sie laut ist.
Nach zweieinhalb Stunden und drei Zugabenblöcken ist das Konzert vorbei. Tanzen, zappeln, mitsingen, freuen, strahlen, spüren. Nicht Sekundenglück, sondern Stundenglück war der Abend.




Und klingt noch nach. Manche Lieder werde ich mir nochmal leise anhören, die Texte aufnehmen, annehmen, verarbeiten. Weiteres Sekundenglück.