Montag, 21. Juni 2021

Varna

Und weil ich mich so aufrege über patriarchatsblinde Interpretationen, aktiviere ich diesen nie zuende fertig gestellten Post vom Sommer 2018:

 

Meine Studienfreundin ruft an. In Rostock wäre eine Ausstellung über die Funde von Varna. Ob wir da sonntags hingehen könnten. Na klar können wir das.

Nun muss man wissen: 

1. Ich habe Ur- und Frühgeschichte studiert. Varna ist ein berühmter archäologischer Fundplatz in Rumänien/Bulgarien.  

2. Mein Forschungsschwerpunkt war Steinzeit. Varna ist chronologisch Kupfersteinzeit, also vom Ende des Neolithikums, am Beginn der Metallzeiten, zeitlich um 4.500 v.Chr.

3. Mich interessiert, wie Geschlecht im archäologischen Kontext dargestellt, ausgedrückt, wahrgenommen wird. Da ist Varna ein Lehrbeispiel, was an Interpretationsspielraum möglich ist.



Aber der Reihe nach:
1972 wird das Gräberfeld von Varna entdeckt, ganz klassisch bei Baggerarbeiten. Varna liegt am Schwarzen Meer, hat einen Hafen, der Fundplatz des Gräberfeldes und der dazugehörigen Siedlung liegt allerdings am Rand eines heute verlandeten Sees. Von der naturräumlichen Lage war das damals optimal, und heute ist es ebenfalls noch attraktiv. Varna ist heute die drittgrößte Stadt Bulgariens. In der Kupferzeit wird Varna vermutlich die zentrale Stadt der Region gewesen sein. Man kennt ca. 270 Gräber aus 250 Jahren, es sieht so aus, als wenn aus der ganzen Region Menschen hier bestattet wurden (nach Krauss u.a. 2017).

Unter den Funden sind schon ziemlich außergewöhnliche Goldfunde, aber auch andere interessante Artefakte. Im Grab 43 ist ein ca. 60jähriger Mann bestattet, dessen Kleidung mit Gold verziert war. In der Hand hielt er einen Goldstab mit Steinaxtaufsatz, der als ein Szepter gedeutet wird. Und er hatte eine goldene Peniskappe! 

 

Die als symbolische Gräber bezeichneten Nr. 1, 3, 4 enthielten u.a. Köpfe aus Ton, die mit goldenen Applikationen ausgestattet waren. Die restlichen Beigaben deuten auf ein Frauengrab. Alle vier Gräber zusammen haben mehr Gold als alle anderen Gräber auf dem Gräberfeld.

 

Immer wieder finden sich auch in den anderen Gräbern von Varna I Beigaben aus Spondylus-Muscheln, Kupferschmuck, Beile aus besonderen Steinen, wunderschöne Ketten aus Karneol, Armreifen und und und. Es ist schon ein besonderer Fundplatz, und das kommt in der Ausstellung auch zum Vorschein.


Die Funde von Varna werden nur deswegen im Kulturhistorischen Museum Rostock gezeigt, weil Varna die Partnerstadt von Rostock ist. Ansonsten sind die Funde nur in ausgewählten Großstädten gezeigt worden, und jetzt im neugestalteten Museum in Varna zu finden.


Und die Interpretation scheint klar. Eine Bestattung eines Mannes mit viel Gold, das kann nur ein Häuptling oder hoher Priester gewesen sein. Die Tonköpfe werden als Darstellung einer Göttin gedeutet, zumal kein Leichnam in diesen Gräbern gelegen hat. Hm.

 

Und was, wenn es ganz anders war? Der Mann mit seiner Peniskappe als Versteifung zum Ausdruck eines Tantragottes, oder als Bestattung eines Mannes, dessen Aufgabe der Heros einer Göttin war, des würdigen und virilen Begleiters einer Priesterin, ein geliebter Prinzgemahl einer Königin. Die Gräber mit den Tonköpfen als Kenotaphe für älteste Töchter, die ihr Glück in der Fremde suchten, weil nur jüngste Töchter erbten. Oder als Erinnerungsgräber für Königinnen, deren Leichname anderen Ritualen unterlagen, deren Knochen in Ahninnenschreinen aufbewahrt wurden. Es gibt soviele Möglichkeiten, sich Gesellschaften vorzustellen, in denen Frauen mächtige Herrscherinnen und Männer schmückendes Beiwerk waren. Insofern stehe ich manchen Interpretationen von mächtigen Männern und Gold nur für Göttinen eher skeptisch gegenüber.


1 Kommentar:

  1. Dank dir für den Impuls und die begründeten Infos für diese Sichtweise, liebe Eva-Maria. Ja, man hat sich sehr gewöhnt an vorgesetzt Denkweisen. Kompetenter Gegenwind ist immer hilf - und aufschlussreich und sortiert vorhandene Wissenspuzzle... ��

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