Mittwoch, 15. Juli 2020

Eine größere Welt

Endlich machen auch die Kinos wieder auf. Im Programm des Liwu, dem Programmkino in Rostock, sehe ich die Ankündigung für den Film "Eine größere Welt". Ich lese nur Schamanismus und Mongolei, da weiß ich, da muss ich hin.


Donnerstag vor'm Urlaub ist der einzig mögliche Termin. Gesagt, getan. Rostock ist knapp anderthalb Stunden entfernt, aber mit Kinoentzug und so einem Thema schreckt mich das nicht. Erst nachträglich merke ich, dass der Film an dem Tag erst in die deutschen Kinos gekommen ist. Ein First für mich, am Erscheinungstag gleich in den Film zu gehen. Deutschlandpremiere und Evapremiere.
Mit 32 Zuschauer*innen ist der Film auch fast ausverkauft ist. Durch die Abstandsregelung bei Corona schrumpft die Platzkapazität extrem.

Doch nun zum Film. Und Achtung Spoiler über Spoiler. Wer den Film unvoreingenommen sehen will, sollte hier aufhören zu lesen.

"Eine größere Welt". Nach einer wahren Geschichte. Die Pariserin Corinne Sombrun will eigentlich ethnologische Tonaufnahmen zu Spiritualität bei einer mongolischen Schamanin machen. Nur fällt sie selbst in Trance, womit sich rausstellt, dass sie schamanische Fähigkeiten besitzt. Die müssen laut der mongolischen Schamanin ausgebildet werden. Sie ist damit nicht glücklich, denn sie trauert um ihren verstorbenen Mann. Da sie aber eine Möglichkeit sieht, darüber mit ihm in Kontakt zu kommen, fängt sie die Ausbildung an. Vorher lässt sie aber nach westeuropäischen Normen bei einem Neurologen ihr Gehirn und ihre Gehirnströme überprüfen. Somit sind in dem Film kunstvoll drei Geschichten verwoben. Einmal die Trauerarbeit, dann das Schamanisieren in der Mongolei, und drittens der Umgang mit Schamanismus in Europa/Frankreich. Verwoben heißt, dass die Traumbilder, die Corinne von ihrem Mann sieht, die Geistermusik, die sie hört, nicht nur Zeichen ihrer schamanischen Fähigkeiten sind, sondern auch Folge eines Schwurs, sich wieder zu treffen. Die Geister sind nicht weit weg von den Lebenden, von uns. Und es ist Aufgabe der Schamanin damit umzugehen. Verwoben heißt auch, eine wunderbare Szene, wo Touristen in die Jurte der Schamanin kommen, und ihnen eine Schauzeremonie vorgespielt wird. Mit dem Ergebnis, dass die Schamanin Rückenschmerzen hat, weil die Trommel 7-8 kg schwer ist, vom metallbehangenen Schamanenmantel nicht zu reden. Wenn ich nicht in Trance bin, spüre ich das Gewicht. Verwoben heißt auch, in einem antiseptischen Labor in Trance zu gehen, mit lauter Elektroden verkabelt, um die unterschiedlichen Gehirnströme zu messen. Der Spruch des Neurologen "ich bewerte nicht, ich beobachte nur" hat für mich Kultstatus. Überhaupt, wie die Schwester und die Psychologin mit ihrem (Wolfs-)Schamanismus umgehen. Mir bleibt das Lachen im Halse stecken, weil es meine Ängste so plastisch darstellt.

Wie all diese Elemente filmisch umgesetzt sind, finde ich den Hit. Denn ob ich eine Papstmesse filme oder eine schamanische Zeremonie, ich sehe immer nur das prächtig kostümierte Aussen. Die Anderswelt darzustellen, den veränderten Bewusstseinszustand, das gelingt der Regisseurin Fabienne Berthaud wundervoll. Die Schnitte, richtige Cuts, zwischen der Mongolei und Paris sind genau im richtigen Augenblick und brutal in ihrer Klarheit. Hier ist hier und dort ist dort, trotzdem sind beide Welten miteinander verbunden. Die Szenen mit ihrer Schwester, die Szenen mit ihrem guten Freund in Paris, die nicht nur sichtbare, sondern fühlbare Einsamkeit in ihrer Pariser Wohnung, ihre Verlorenheit. Die Farbenprächtigkeit der mongolischen Trachten, der arbeitsreiche Alltag von Rentierhirten mit Jungtiere einfangen, melken, Wasser holen, fast nie allein sein, selbst wenn ich in der tiefsten Krise bin. Alles filmisch präzise ausgedrückt.

Nicht nur die bunten flirrenden Szenen des in Trance fallen, nicht nur die schwarz-weiß-weichgezeichneten Szenen der Anderswelt, auch die Anfangs- und die Endszene werden mein Bildergedächtnis noch lange begleiten.

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