Dienstag, 26. Mai 2020

Social Distancing

Nach fast drei Monaten ist mein persönlicher Lockdown vorbei. Ich darf, ich kann wieder persönlich auf Arbeit anwesend sein, die Zeit der Videokonferenzen und Telefonate endet nach Pfingsten.
Nicht jedoch endet meine Verantwortung, mit Social Distancing umzugehen, mir zu überlegen, wie ICH mit Infektionsketten, Ansteckungsrisiko etc. umgehen will. Das bleibt.

Hannah Arendt hat gesagt: Keiner hat das Recht zu gehorchen. Sie hat es am Beispiel der Befehlsketten der NS-Zeit entwickelt. Ich kenne viele, viele, viele Leute, die das gut und richtig finden. Ich gehöre auch dazu. Und war mir immer bewußt, dass es ein guter, ein wahrer Spruch ist. Der damals nicht leicht umzusetzen war. Der selbst im Alltag einer Demokratie nicht leicht umzusetzen ist. Jedesmal, wenn ich nicht gehorche, hat das Folgen. Gehorchen hat so Eltern-Kind-Assoziationen bei mir. Reicht aber bis weit hinein in Gesetze, die zu befolgen auch gehorchen ist.
Und da wird es schwierig: Staat und Politiker*innen, die meinen, sie wüßten, was gut für mich ist, lassen mich wiederspenstig werden. Keiner hat das Recht zu gehorchen. Ich auch nicht. Demokratie ist für mich auch, viele mitreden lassen und eine Balance finden, eine Ausgewogenheit herstellen zwischen den Anforderungen der Gesellschaft als Gruppe von Individuen und den Individuen selbst. Das klassische Wassermann-Thema im Wassermannzeitalter. Oder Förderalismus in einer Demokratie, Regionalisierung in einer globalisierten Welt.

Alle sind mit allen verbunden. Wenn ich mich nicht an Social Distancing halte, hat es nicht nur für mich Folgen, sondern auch für andere. Die Frage, die sich mir dann stellt: Überblicke ich die Folgen meiner Handlungen? Ich denke nein. Ich überblicke die unmittelbaren Folgen, vielleicht. Die mittelbaren Folgen schon längst nicht mehr. Ein gutes, weil liebevolles und positives Bespiel: Wenn ich zu jemand freundlich bin, lächle, dann lächelt die Person auch, lächelt eine oder mehrere weitere Personen an, verschönt deren Tag. Ich überblicke nicht, weiviele Menschen mein eines Anlächeln erreicht. Genauso weiß ich nicht, ob ich, wenn ich mich heute ins Auto setze, in einen Unfall verwickelt werde oder nicht. Das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, nicht nur von mir. Und die Folgen wären immer da, und können gravierend sein. Und in Corona-Zeiten? Ob ich aus dem Haus gehe, mit oder ohne Maske, hat oder hat keine Folgen. Genauso wie Lächeln oder Auto fahren.


Keiner hat das Recht zu gehorchen! Wenn mir das ein Leitsatz ist, muss ich meine Taten (und ihre Folgen) selbst verantworten. Und mich im Zweifel für oder gegen Social Distancing entscheiden, um im Falle eines Falles auch mit der Schuld zu leben, mit dem Leid leben, das meine Taten verursacht haben. Im Kleinen wie im Großen, das gilt für Umweltverschmutzung genauso wie für Corona. Die Welt dreht sich in Kreisläufen. So schön sich Herdenimmunität anhört, so grausam ist Triage in Notfallambulanzen und Kliniken, weil sich zuviele gleichzeitig angesteckt haben. So praktisch eine Plastiktüte sein kann, so gefährlich ist sie im Meer oder im Wald. ICH habe kein Recht zu gehorchen. ICH muss mir überlegen, für welche Werte stehe ich, was MIR wichtig ist.

Ich kann gar nicht alle Folgen aller meiner Handlungen überblicken. Ich kann nur mein Hirn und mein Herz einschalten, und versuchen, die für mich und die Welt richtige Entscheidung zu treffen. Und das heißt manchmal zu gehorchen und manchmal eben nicht.

Gemeinsames Frühstück mit 1,5 m Social Distancing Abstand

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