Samstag, 18. Mai 2019

Der Besuch der alten Dame

Der Besuch der alten Dame
Nass geschwitzt komme ich aus dem Theater. Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt als Ballett adaptiert. Als Schauspiel hätte ich es vielleicht gar nicht ertragen, auch so nimmt es mich mit.


Im Gegensatz zum Buch ist hier keine Freiwilligkeit im Geschlechtsakt zwischen Claire und ill. Die Vergewaltigung ist die zugrunde liegende böse Tat. Mit den daraus resultierenden bekannten Folgen. Im Buch ist die böse Tat die Vertreibung der unehelich Schwangeren Claire durch Pfarrer, Honoratioren und den zugehörigen Frauen. Der Täter geht straffrei aus. #me too in Reinkultur. Ich hatte echt vergessen, wie das war, welche Ohnmacht die betroffene Frau hatte. Von heute aus gesehen, reicht die Nichtanerkennung der Vaterschaft nicht mehr für die Konsistenz der Geschichte, für den Hass, der in Claire Zanachiassian tobt. Doch bei einer Vergewaltigung sieht es anders aus, das bedeutet meist immer noch lebenslang Folgen für das Opfer. Nicht jede ist Nelson Mandela und kann verzeihen. Claire Zanachiassian kann das nicht.

Das Geld die Moral untergräbt -  geschenkt. Das ist ein alter Hut, der wirklich gut dargestellt ist. Der nuanciert in grell goldgelben Kleidern, die immer mehr zunehmen, ausgedrückt wird. Es ist bildgewaltig, wie das grauschwarze 50iger Jahre Dorf Stück um Stück in goldgelbe 60iger Jahre umsteigt.

Doch was mich wirklich fertig macht, ist die Zielstrebigkeit und Unversöhnlichkeit, mit der Claire Zanachiassian ihren Racheplan umsetzt. Zumal der Tod von ill über ihre persönliche Befriedigung hinaus sinnlos ist. Weder verhindert er ähnliche Fälle noch unterstützt er Opfer solcher Vorgänge. Auch in der Dorfgemeinschaft ändert sich ja nichts. Sie waren, sind und bleiben menschenverachtend, unliebend/lieblos. Sachwerte und Eigennutz sind ihnen heute wie damals wichtiger als reale Menschen in Not. (Da weiß ich wieder, warum ich Schauspiel genau wie die meiste Ratgeberliteratur so hasse: sie beschreiben schmerzhaft die Ist-Realität und zeigen keinen Ausweg. Sie sind halt immer nur ein erster Schritt zur Erkenntnis).

Als Musik hat Ralf Dörnen Auszüge aus  Symphonien und anderen Kompositionen von Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) ausgewählt. Ich hätte schwören können, dass er eine Komposition in Auftrag gegeben hat, so stimmig sind Musik und Ballett. Erst mit der Schlussszene, die kollektive Tötung von ill zum Choral von Bach "O Mensch, bewein dein Sünde groß" erkenne ich, dass Dörnen auf vorhandene Musik zurück gegriffen hat.

Ja, ill hat sich schuldig gemacht, ja, er hat Strafe verdient. Doch nein, sein Tod sühnt gar nichts. Im Gegenteil, er macht es schlimmer. Dürrenmatt wusste noch nichts von transgenerationaler Vererbung, wusste nicht, was es mit den Menschen einer Dorfgemeinschaft macht, gemeinschaftlich einen Menschen zu töten. Er ahnte es vielleicht, aber es ist nicht Thema seines Stücks.
Und so schaue ich in der Schlussszene des Stücks auf eine glitzerschwarze Claire Zanachiassian, die auf einem überdimensionalen Goldbarren sitzt, der gleichzeitig ein Grab ist. Und sie sieht nicht aus, als habe sie Frieden gefunden. Sie hat Rache gesucht und Rache gefunden. Und die Schuld, die jeder und jede einzelne in dieser Dorfgemeinschaft hatte, erhöht. Kein Wunder, dass ich so fertig bin nach der Aufführung.


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