Donnerstag, 9. Februar 2017

Opfer und Täter



Mit Andrea nach Rostock gefahren zur Lesung von Alexandra Senfft, Der lange Schatten der Täter. Sie berichtet von ihrer Aufarbeitung der Geschichte ihrer Familie, mit einem Großvater, der für seine Schuld am Galgen hingerichtet wurde. Von einer Großmutter, seiner Frau, die sie, die Enkelin, innig geliebt hat, eine Oma, die eine ebenso überzeugte Nationalsozialistin wie ihr Mann war. Sie erzählt von Menschen, in deren Familie der Mythos, die Trauer über die verlorene Fabrik aufrecht gehalten wird, jedoch die Herkunft dieser Fabrik aus Arisierung geleugnet wird. 

Opfer des Nationalsozialismus. Dazu gehören für mich nicht nur die ermordeten (und überlebenden) Juden, Homosexuellen und politisch Verfolgten. Das reicht für mich bis zu den Kindern und Enkeln der Opfer und Täter, zu Kriegskindern und Kriegsenkeln. Und, und, und. Transgenerationale Vererbung.

Dabei: was heißt Opfer des Nationalsozialismus? Das klingt so schön abstrakt. Opfer der in der Gesinnung des Nationalsozialismus handelnden Menschen; Opfer der Männer und Frauen, die Täter, Mitläufer, Nutznießer der Struktur, der Gesinnung Nationalsozialismus waren. Opfer der im Sinne des Nationalsozialismus handelnden Menschen wäre eine sehr präzisere Bezeichnung. Systeme handeln nicht aus sich. Auch der Kapitalismus sind du und ich, die in diesem System konsumieren, unser Geld verdienen. Und Demokratie sind auch wir, jede und jeder einzelnen. Doch da will ich gar nicht hin. Es geht mir um die Opfer, hier die Opfer der Menschen, die im Sinne des Systems Nationalsozialismus handelten. 

Es ist so leicht, sich als Opfer zu fühlen, dann sind immer die anderen schuld. Dass ich mich mit dieser Haltung zur Täterin mache, vergessen die meisten. Ich handle, um Opfer zu bleiben, indem ich den anderen die Schuld zu schiebe. Handeln hat mit tun, mit machen zu tun, ist ein aktiver Prozess. Der mich damit zur Täterin werden lässt. Wenn ich Opfer bleiben will, die diffus gefühlten Unstimmigkeiten in meiner Familiengeschichte (oder nur in meiner Beziehung, seufz) nicht anspreche, nicht versuche, an zu sprechen, aufzuklären, dann werde auch ich durch mein Nicht-Handeln zur Täterin, denn ich gestalte mir das ja. Kriegskinder und Kriegsenkel haben so immer Gestaltungsmöglichkeit. Vermutlich alle anderen auch. Das hat nicht mit der Frage Schuld zu tun. Da ist klar: wer tötet, wer mordet, wer Gewalt deckt, wer von Gewalt profitiert, macht sich schuldig. Womit ich schon wieder beim Kapitalismus wäre. Denn wir in der Ersten Welt profitieren von der Ausbeutung der Dritten Welt. Es ist nur nicht so sichtbar wie bei Arisierung. 
Vermutlich mache ich mich an mir selbst schuldig, wenn ich Opfer bleiben will. Ein weites Feld.

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