Samstag, 23. März 2019

Tartu

Tartu zeigt sich in ganz anderem Licht als Tallinn. Es ist ein klarer Tag, die Sonne scheint. Wo Tallinn Mittelalter ausströmt, ist Tartu eher Klassizismus in der Innenstadt. Aber vor allem Universitätsstadt.




Die Hochschulgebäude sind in der ganzen Stadt verteilt, gefühlt gibt es nur junge Leute hier. Der Bürgermeister erzählt nachher, 100.000 Einwohner, dazu 20.000 Studierende bzw. 50 % der Einwohner unter 35. Viele der Studierenden bleiben nach Abschluss des Studiums also da, finden Arbeit, auch in den Start-Ups, wegen denen wir nach Estland gereist sind.


Nicht nur Tallinn, auch Tartu hat Weltkulturerbe. In der alten Sternwarte der Universität Dorpat (wie Tartu damals hieß) ist ein Punkt des Struve-Bogens verankert. Damit wurde Anfang des 19. Jahrhunderts (um 1810 herum) begonnen die Erdkrümmung zu berechnen. Im Prinzip obercool. Mathematik eingeschrieben in die reale Welt, in geographische Entfernungen. Ein wissenschaftliches Messinstrument ziemlicher Größe.



Der Urahn der Mädchen war von 1858 bis 1863 Professor für Ethnologie, Geographie und Geschichte in Dorpat. Erst Zeit seines Lebens haben sich die Professionen richtig getrennt, so dass er in Dorpat 1863-69 Professor nur für Geschichte war; und nach der Flucht von 1874 bis zur Eremitierung 1907 in Kiel ebenfalls (und Dekan 1863-67 in Dorpat und später 1878/79 Rektor in Kiel, aber das ist eine andere Geschichte).

Dieser Ur-, Ur-, Urgroßvater väterlicherseits der Mädchen ist Deutsch-Balte gewesen. Um 1870 herum ist er mit Familie aus Dorpat nach Deutschland geflüchtet. Dorpat, das heutige Tartu, war damals ein Teil von Russland. Erst 1918 ist Estland das erste Mal unabhängig geworden, bis zum Einmarsch der Russen 1940; seit 1991, mit dem Ende der Sowjetunion, sind sie wieder ein souveräner Staat. Vorher waren sie auch mal schwedisch oder deutsch. Dieser Ur-, Ur-, Urgroßvater hat sich laut und öffentlich gegen die Russifizierung geäußert. Bis 1860 waren Esten, Deutsche und Russen eher gleichberechtigt im Baltikum, ab 1870 eher nicht. Und Deutsch-Balten waren nicht mehr gern gesehen, schon gar nicht welche, die auf ihren althergebrachten Rechten beharrten.
Es gibt Menschen in Deutschland, Deutsch-Balten, die diesen Urahn hochhalten, die Familie selbst steht dem eher fremd gegenüber. Auch ich sehe in meinen Kindern keine (ehemaligen) Deutsch-Balten, keine Kinder mit Migrationshintergrund oder gar Nachkommen politisch Verfolgter. Dieser Teil der Familiengeschichte ist in meinen Augen zu lang her, um Auswirkung auf den Alltag zu haben. Aber das ganze Thema beschäftigt mich doch.
So versuche ich in der Diskussion mit dem Leiter des Goethe-Instituts in Tallinn zu verstehen.
Waren die Deutsch-Balten böse Kolonialisten gegenüber den Esten, oder waren sie Kulturbringer, Kulturförderer in Estland. Er meint, sowohl als auch. Es hängt, wie so oft, vom konkreten Verhalten der einzelnen ab. Was sie auf keinen Fall waren, ist assimiliert. 700 Jahre deutsche Oberschicht in Estland, egal ob unter schwedischer oder russischer Herrschaft, mit deutscher Sprache, vermutlich auch mit deutschem Essen, deutschen Bräuchen und deutscher Kultur (wie immer das genau ausgesehen haben mag, auf jeden Fall haben sie die Reformation angenommen und waren Lutheraner). Die Universität Dorpat hatte als Unterrichtssprache deutsch. Obwohl sie lange die einzige Universität im russischen Reich war. Es kommt mir vor wie Deutsche, die im Ausland leben. Und da als Akademiker und Kaufleute nicht die Bindung an eigenen Grundbesitz im Selbstbild konstituierend ist, sondern die Bindung an die Wissenschaft oder den Handel, kommt durch die Sprache und gelebte Kultur ein anderes Selbstverständnis zustande als vielleicht bei Adligen. Auf jeden Fall gehe ich durch die Stadt und versuche mir vorzustellen, wie das hier war vor 150 Jahren, als der Urgroßvater mit seinen sieben Kindern hier lebte.








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